Chindogu – Machtübernahme in Sachsen!

Meine Freundin ist Fan der japanischen Kultur. Im Internet schauen wir uns jeden Morgen nach dem Frühstück Bilder von Chindogus an. Keine Sorge: Bis vor einem Monat wusste auch ich noch nicht, was Chindogus sind. Begriffserklärung Wikipedia:

Das Chindōgu (japanisch [t͜ɕindoːɡɯ̞̈], wörtlich seltsames Gerät) ist eine humoristische Abart einer Erfindung und zugleich eine Art Witz. Es löst ein tatsächliches Problem auf besonders kreative Weise, während sein tatsächlicher Einsatz mehr Probleme verursachen als lösen würde. Erfinder der Chindogu-Idee war Kenji Kawakami. Chindōgus müssen nicht unbedingt funktionstüchtig sein.

Als Schamane interessiert mich das natürlich, als Schamane interessieren mich Dinge, die echte Weltprobleme auf besonders kreative und witzige Weise zu lösen versuchen, die dabei aber nicht unbedingt immer funktionstüchtig sind. Als Schamane bin ich derzeit selber intensiv auf der Suche nach kreativen Chindogu-Lösungen für die folgenden drei Weltprobleme: erstens: Klimawandel, zweitens: um sich greifende allgemeine Idiotie und drittens: Provinz-Faschismus

Apropos Lösungsversuche für Weltprobleme: Meine Freundin und ich reisen seit einigen Wochen jeden Sonntag irgendwohin ins sächsische Hinterland nach Colditz, Waldheim, Borna oder Glauchau und demonstrieren dort im Auftrag der Connewitzer Antifa. Mit dem 49 Euro-Ticket, und natürlich von der Antifa bezahlt.

Nach den Demos schlendern wir dann dort immer noch ein, zwei Stunden lang rum in den jeweiligen Kleinstädten – zum Beispiel über die meist parallel stattfindenden Flohmärkte auf den zugigen Parkplätzen der jeweiligen Innenstädte.  – Und was wir dort suchen, wissen wir meist selber nicht, wir tun jedenfalls unser Bestes, um mit den Einheimischen ins Gespräch zu kommen. Mit jenen Einheimischen, die ja schon ganz demnächst, spätestens aber nach der Wahl am 1. September, die Macht hier in diesem Land ganz und gar übernehmen werden – mit ihren inzwischen mehrheitsfähigen Prepper-Rucksäcken aus NVA-Beständen, die sie auf diesen Flohmärkten hier verkaufen, oder mit ihren Chemtrail-Defense-Aluhüten fresh made in China, oder mit ihren vergilbten Landser-Heften und Compact-Magazinen, oder mit ihren Retro-Aufnähern von DDR-Fahnen oder Thälmannpionierabzeichen oder mit ihren hunderten AFD-Fahnen in allen Quadratmetergrößen drapiert auf ihren meterlangen Flohmarkt-Tapeziertischen.

Letztes Wochenende sind wir also mal wieder zum Demonstrieren nach Grimma oder Döbeln oder Zwickau gejettet und danach wie immer auf dem örtlichen Flohmarkt gelaufen. Und plötzlich sehe ich es, dieses krass rot & metallic leuchtende ultimative Chindogu aus DDR-Produktion! – Das Chindogu ragt aus einer der Wühlkisten, die ein stämmiger Endfünziger vor seinem zehn Meter langen Verkaufs-Klapptisch abgestellt hat. Der Endfünziger trägt eine Nato-Kampftarnhose und eine NVA-Felddienstuniformwattejacke und dazu auf dem Kopf ein Basecap, auf dem „Hier kommt Jens!“ steht.

Ich nähere mich langsam Hier kommt Jens-Jens und seiner Wühlkiste und dann ziehe ich es ganz vorsichtig heraus. – Das Chindogu ist sauschwer. Es hat in sich offenbar einen Motor und an sich ganz viele verschiedene Schwungscheiben, Düsen und Propeller. Und alles an ihm lässt sich drehen und bewegen.

„Was ist n das?“ frage ich den Hier kommt Jens-Jens.

„Na, das is so‘n Dingens“, sagt Jens.

„Und was kann man so machen mit diesem Dingens?“

„– Mit dem kann man so bestimmte Dingens-Sachen machen eben“, sagt Jens – „Tommy, kannste mal rüber kommen, hier fragt eener, was man mit diesem Dingens da so machen kannst. Du hast doch da mehr Ahnung mit Technik und so.“

„Klaro Jens, komm gleich“ schallt es von drei Verkaufsständen weiter. und dann kommt Tommy zu uns rübergestapft. Und Tommy ist ebenfalls Ende 50, und den Runen-Tätowierungen auf seinen nackten Unterarmen zufolge hat er schon ein paar krasse Sachen im Leben hinter sich, und er will auch, dass alle das gleich auf den ersten Blick sehen, sogar im Februar und bei nur 2 Grad plus und feuchtem Bodennebel. Und Tommy nimmt mir das Chindogu also fachmännisch aus der Hand und beäugt es: „Na, das ist doch ganz klar: das ist der Antriebsbolzen von ner Messerschmidt Me 163 Baujahr 1942; Feindeinsatz in der Luftschlacht über England, über Kreta und in Stalingrad.“

„So, so“, murmele ich, und mir ist wirklich nicht ganz wohl zumute inzwischen – wegen Tommy oder wegen des Chindogu ist mir nicht ganz klar.

„So, so“ murmelt auch meine Freundin jetzt, nimmt Tommy das Chindogu aus der Hand, inspiziert es von allen Seiten und sagt, „Aber das mit der Messerschmidt kann irgendwie nicht ganz hinkommen. Hier unten steht ganz klein VEB ELMO Hartha drauf auf dem Gerät.“

„Ach so, hm, ja, hätsch ja glei sehen können. – Hej Sandro, du kommst doch aus Hartha. Wir haben hier so’n Dingens, so’n elektrisches DDR-Dingens, das wir nicht so direkt 100 Prozent zuordnen können, kannste mal kurz rüberkommen.“

Und jetzt kommt also auch Sandro noch rüber vom anderen Ende des Marktes und ihm folgen gleich  ein paar weitere Einheimische. Und Sandro nimmt das Chindogu und schaut sich alles ganz intensiv und fachmännisch von allen Seiten an und dann sagt er:

„Na das ist natürlich so‘n ähm so‘n ähm Dingens aus‘m VEB ELMO bei uns aus Hartha“, sagt er schließlich mit unverhohlenem Stolz in der Stimme.

„Na das wissen wir ooch schon, Sandro,  das mit’m VEB Elmo! – Kannste nicht ma deine Mutter anrufen, die hat doch da mal gearbeitet, in dem Elmo-Betrieb, oder?“

Und Sandro nickt und holt sein Telefon raus und ruft seine Mutter an, aber die ist gerade nicht zu Hause und Sandro spricht auf den AB: „Du Mutti, wir haben hier so’n Dingens hier von dein‘m früheren Betrieb, ruf doch mal zurück, is wichtchsch!“

Inzwischen kommt Melanie vom Nachbarstand rübergeschlendert, auf ihren taillierten Blaumann-Wattejacken trägt sie ein selbstgesticktes DDR-Emblem. „Sandro, gib mir das mal – dieses Dingens da!“ Und auch Melanie inspiziert jetzt das Gerät von allen Seiten: „Also wenn Ihr mich fragt: mein Opa aus Waldheim, der hatte auch mal so eins, genau so eins, wie das hier. Da war der ganz stolz drauf, das war der Prototyp des Kolbenrückzugssicherheitsmotors für Havariefälle aus dem ersten DDR-Atomkraftwerkes in Rheinsberg, gebaut 1966, hat er mir immer erzählt, wenn ich ihn als Kind mal besucht habe, weiß ich noch wie heute, und er hätte es damals einfach mitgehen lassen beim Bau des AKW als Andenken, weil er es so formschön fand.“

Inzwischen ist auch Rita dazugekommen und Rita sagt, dass das alles Quatsch sei und sie hätte beim VEB Stern Radio in Rochlitz gearbeitet und sie wisse ganz genau, dass dieses Ding hier die Sendersuchlauf-Vorrichtung vom legendären Radio Recorder Stern 1000 gewesen sei, die in hohen 100er Stückzahlen monatlich vom VEB Elmo Hartha nach Rochlitz geliefert worden wären und von ihr höchstpersönlich 1981-1986 in den Sternrecorder 1000 einbaut worden seien damals.

„Aber Rita, ist das nicht ‘n bisschen schwer – so als Bauteil für’n Radiorecorder, meine ich“, mischt sich aber jetzt Nancy ein, die Ritas Tochter oder Schwiegertochter zu sein scheint. „Und hast du nicht immer gesagt, du hättest in den 80ern auf der Rochlitzer Kolchose im Kuhstall gearbeitet?“ 

Immer mehr Leute bilden jetzt eine wild diskutierende Menschentraube rund um das wundersame DDR-Chindogu ohne Funktionsbeschreibung, das nun immer weiter von Hand zu Hand wandert. Inzwischen ist auch Jochen dazugestoßen, Jochen trägt eine getönte Brille und alle auf dem Flohmarkt hier nennen ihn ehrfürchtig den „Professor“, sagt Jochen, um sich mir und meiner Freundin vorzustellen, aber eigentlich sieht er weniger wie ein Professor aus, sondern eher wie ein Zuhälter aus der Provinz, denken wir. Und er hätte früher mal für Manfred von Ardenne persönlich gearbeitet, sagt Jochen und später sei er von dort aus zur DDR-Mikroelektronik-Fabrik nach Silicon Sömmerda delegiert worden. Und auch Jochen lässt sich nun feierlich das Chindogu zur Begutachtung reichen und beäugt es ebenfalls ganz aufmerksam. Und dann sagt er mit leicht pathetischer Stimme: „Das ist ganz eindeutig die erste digitale Informations-Einspritzdüse für das DDR-eigene Internet, gebaut 1979 mit neuester sächsisch-thüringischer Technologie. Und später wurde dann damit zusammen mit anderen Bauteilen aus Sömmerda die erste DDR-Online-Dating-Plattform Robotron 3000 betrieben, die auch voll funktionierte, wodurch sich auch niemand in der DDR allein gelassen fühlen musste, beziehungsanbahnungstechnisch gesehen zumindest, was die Geburtsstatistiken in der DDR ab 1980 signifikant in die Höhe schnellen ließ. Und er könne da noch so einiges erzählen, was da in der DDR viel besser funktionierte als heute mit diesem neumodischen Social-Media-Tinder-Tinnef und so.“ Und Bernd pflichtet ihm bei und sagt: „Ja!“ – und dass damals alles, wirklich alles seinen Sinn und seine tiefere Bedeutung und seine Ordnung gehabt hätte – damals in der DDR, und dass er selber damals bei der örtlichen Feuerwehr angestellt gewesen wäre und dass dieses Dingens da allerdings in Wahrheit nichts mit dem DDR-Internet zu tun gehabt hätte, das wisse er genau, sondern, dass dieses Dingens ein wichtiges Funktionsteil der Feuerwehr-Sirene am Feuerwehr-Einsatz- und Löschfahrfahrzeug Robur 500 gewesen sei. Und dass er diese Sirene selbst jedes Mal händisch bedient hätte, wenn sie damals zum Einsatz ausgerückt und mit 100 Sachen durch die örtliche Innenstadt gebrettert seien, dass die Passanten nur so beiseite sprangen. „Mann, waren das Zeiten!“

Aber meine Freundin unterbricht Bernd etwas unvermittelt: „Ich glaube ja, bei diesem Gerät handelt es sich eher um ein Chindogu.“ Sie nimmt das Chindogu in ihre Hände und hält es hoch über sich in die Luft und dann erklärt sie den stumm verblüfften Bernds und Jochens und Ritas und Melanis und Jens‘ und Tommys und Nancys und allen anderen Leuten um uns rum auf diesem Flohmarkt in dieser kleinen von der AFD überschwemmten sächsischen Provinzstadt im Hinterland, was ein Chindogu ist und sie liest den entsprechenden Wikipedia-Eintrag laut aus ihrem Handy vor und dann noch die berühmten 10 Regeln, die der legendäre Chindogu-Erfinder Kenji Kawakami als Vorgaben für echte Chindogus festgelegt hat:

          10 Regeln für Chindōgus

1.    Ein Chindōgu muss eigentlich nutzlos sein.

2.     Ein Chindōgu muss es wirklich geben.

3.    Ein Chindōgu muss den Geist der Anarchie in sich tragen.

4.    Chindōgus sind Werkzeuge für das tägliche Leben.

5.    Ein Chindōgu ist nicht für den Verkauf bestimmt.

6.    Ein Chindōgu darf nicht nur aus einer Laune heraus entstehen.

7.    Chindōgus sind keine Propaganda, sondern unschuldig.

 8.   Chindōgus sind nie tabu.

 9.   Ein Chindōgu darf nicht patentiert werden.

10.    Ein Chindōgu ist immer vorurteilsfrei.

Und alle Menschen um uns rum sind plötzlich ganz still und betroffen und in sich gekehrt. Und irgendwann hören wir Jens sagen; „Ja so war es in der DDR: Alles bestand damals nur aus Chindogus: Alles hatte eine Funktion, aber es hatte gleichzeitig auch keine Funktion! Alle Dinge waren irgendwie angenehm nutzlos und gleichzeitig total vorurteilsfrei und ohne jeden Kommerz. Und man konnte auch total vorurteilsfrei über alle diese Dinge reden und ins Gespräch kommen damals! Und mit jedem! So wie jetzt!“ 

Und alle nicken bedächtig und lächeln, sogar Jochen und Messerschmitt-Tommy nicken und lächeln. Denn offenbar kann sich irgendwo jeder von ihnen wiederfinden in diesem Chindogu-Manifest, denke ich, und dass Chindogus offenbar diese Metafunktion hätten in der Welt – oder zumindest in der sächsischen Provinzwelt.

„Und weil Chindogus vorurteilsfrei sind“, höre ich jetzt meine Freundin zum letzten Mal das Wort ergreifen, „und weil Chindogus auch keine Propaganda sind und auch kein Kommerz sind, würden echte Chindogus auch niemals AFD wählen, kapiert, Freunde?“ höre ich meine Freundin sagen. Und mir wird etwas mulmig, als sie das sagt, und ich will ihr signalisieren, dass wir jetzt den Bogen vermutlich etwas überspannt haben könnten und dass wir uns mal schleunigst auf den Weg Richtung Bahnhof oder Bushaltestelle machen sollten, um nicht doch noch irgendwas auf die Mütze zu bekommen. Aber die Einheimischen lächeln immer noch und nicken sogar ein bisschen vor sich hin.

Und später auf der Rückfahrt in der Regionalbahn, während das Tageslicht schwindet, halte ich das erste auf einem Provinz-Flohmarkt gefundene DDR-Chindogu meines Lebens an mein Herz gepresst. Und meine Freundin sitzt neben mir, und wir träumen im Auftrag der Connewitzer Antifa zusammen von der Chindogu-Machtübernahme in Sachsen.

KURT MONDAUGEN

Fotocredit: Roland Quester

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